Die übersehene Rolle von Selen für die Gesundheit, Lebensdauer und Fruchtbarkeit

Selen unterstützt eine Vielzahl verschiedener Selenoproteine und Antioxidantien, die für unsere Immunabwehr, das Kreislaufsystem, den Krebsschutz, den Stoffwechsel, die Darmflora, die Fruchtbarkeit, das Nervensystem und die allgemeine Gesundheit wichtig sind. Dies wird in zwei Meta-Analysen beschrieben, die in Frontiers in Nutrition veröffentlicht wurden. Die Autoren weisen darauf hin, dass Selenmangel in weiten Teilen der Welt, auch in Europa, weit verbreitet ist und dass es sich dabei um ein Problem der öffentlichen Gesundheit handelt. Die große Frage ist, wie viel Selen wir brauchen, um vielen chronischen Krankheiten wirksam vorzubeugen und sie zu behandeln.

Selen ist ein Spurenelement, das Pflanzen aus dem Boden aufnehmen. Der Selengehalt im Boden ist von Region zu Region unterschiedlich, und dieser Unterschied spiegelt sich in der gesamten Nahrungskette wider. Obwohl Vollkornprodukte, Fleisch, Innereien, Eier, Milchprodukte und Nüsse zu den besten natürlichen Selenquellen zählen, kann ihr Gehalt an dem Mineralstoff um mehr als tausend Prozent variieren, je nachdem, wo die Pflanzen angebaut wurden. Der Selengehalt in Pflanzen wird auch durch Faktoren wie intensivere Anbaumethoden gesenkt. Selen ist auch in Fisch und Schalentieren enthalten, aber selbst bei einer ausgewogenen Ernährung kann es schwierig sein, genügend davon zu bekommen.
Ein Selenmangel lässt sich durch die Messung des Selengehalts im Serum oder Plasma feststellen. Der Selengehalt sollte idealerweise 85 Mikrogramm pro Liter oder mehr betragen. Auch Zehennagelabschnitte können zur Messung des Selengehalts verwendet werden. Obwohl Selenmangel zu vielen Krankheiten und zum Ausbleiben eines guten Ansprechens auf Therapien beiträgt, ist es nicht üblich, den Selengehalt zu messen.
Nach Angaben der WHO ist die Selenzufuhr in weiten Teilen der Welt, darunter Europa, große Teile Chinas, Afrikas, Indiens und Brasiliens, zu niedrig.
Die Autoren einer neuen Metaanalyse und Übersichtsarbeit analysierten mehr als 2 200 wissenschaftliche Artikel, darunter 76 Metaanalysen, um die Rolle von Selen im Zusammenhang mit der Keshan-Krankheit, Virusinfektionen, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, Darmerkrankungen, Fruchtbarkeitsstörungen und neurologischen Störungen genauer zu untersuchen.

Keshan-Krankheit und Herzinsuffizienz

Die Provinz Keshan liegt im nordöstlichen Teil Chinas. Hier ist der Boden extrem selenarm. Früher waren viele Menschen von einer lebensbedrohlichen Krankheit betroffen, die heute als Keshan-Krankheit bekannt ist. Sie wird durch ein normalerweise harmloses RNA-Virus (Coxsackie-B-Virus) verursacht, das das Herz angreift und zu Herzversagen führen kann, weil die Immunabwehr durch den extremen Selenmangel geschwächt ist. In den 1960er Jahren haben die Chinesen in diesem Gebiet die Krankheit systematisch mit Selenpräparaten ausgerottet.

Die Immunabwehr und Virusinfektionen

Selen ist wichtig für die Immunabwehr, die potenziell gefährliche Mikroorganismen und Krankheitserreger schnell und wirksam bekämpfen soll. Selen hilft der Immunabwehr auch bei der Kommunikation, was für ihre Fähigkeit, Entzündungsprozesse zu regulieren, unerlässlich ist. Selen ist auch ein Antioxidans und verhindert, dass Viren mutieren und immer virulenter werden. Die vorzeitige Entwicklung von HIV (Humanes Immundefizienz-Virus), einem RNA-Virus, wird mit niedrigen Selenspiegeln im Plasma in Verbindung gebracht. Generell ist die Unterernährung ein wichtiger Faktor für das Fortschreiten von AIDS. Selenmangel erhöht auch das Risiko, an anderen RNA-Viren wie Hepatitis B und COVID-19 zu erkranken. Der Selengehalt im Boden kann indirekt darüber entscheiden, ob Infektionen wie COVID-19 harmlos verlaufen oder eher lebensbedrohlich werden

Krebs

Selen verfügt über eine Vielzahl von krebsschützenden Mechanismen, darunter die Genregulation, die Reparatur geschädigter DNA, die Immunabwehr, die Regulierung von Entzündungen und die Apoptose (programmierter Zelltod). Selen unterstützt auch mehrere starke antioxidative Mechanismen, die die Zellen und ihre DNA vor oxidativem Stress durch freie Radikale schützen.
Studien zeigen, dass Selen in täglichen Dosen von 100-200 Mikrogramm das Risiko für verschiedene Krebsarten und krebsbedingte Todesfälle senken kann. Außerdem scheinen Selenpräparate nur bei Menschen eine positive Wirkung zu haben, die von vornherein einen Selenmangel haben, was in weiten Teilen Europas und anderen Gebieten mit niedrigem Selengehalt im Boden der Fall ist. Selenhefe scheint die beste Wirkung zu haben.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache. Das Alter, das Rauchen, ein ungesunder Lebensstil, Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes und genetische Faktoren erhöhen das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Selen verhindert durch seine antioxidative Funktion die Oxidation von Cholesterin, was der eigentliche Grund dafür ist, dass sich dieses ansonsten lebenswichtige Lipid in den Blutgefäßwänden einlagert und dort die Voraussetzungen für Atherosklerose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schafft.
Selen wirkt auch chronischen Entzündungen entgegen. In der schwedischen KiSel-10-Studie wurden 443 ältere Menschen vier Jahre lang nach dem Zufallsprinzip entweder einer täglichen Supplementierung mit 200 Mikrogramm Selenhefe und 200 Milligramm Q10 in pharmazeutischer Qualität oder einem entsprechenden Placebo zugewiesen. Die Studie zeigte, dass in der Gruppe, die mit Selen und Coenzym Q10 supplementiert wurde, die kardiovaskuläre Sterblichkeit im Vergleich zur Placebogruppe um über 50 Prozent gesenkt wurde. Nachfolgestudien 12 Jahre später zeigten ebenfalls einen signifikanten und positiven Langzeiteffekt auf das Kreislaufsystem, die Herzgesundheit und die Lebenserwartung.

Störungen der Schilddrüse

Der Körper benötigt Selen, um das passive Schilddrüsenhormon T4 (mit vier Jodatomen) in das aktive Hormon T3 (mit drei Jodatomen) umzuwandeln. Studien zeigen, dass eine Selensupplementierung als Zusatztherapie bei der Behandlung von autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen wie der Hashimoto-Thyreoiditis (die eine Schilddrüsenunterfunktion verursacht) und der Basedow-Krankheit (die eine Schilddrüsenüberfunktion verursacht) eine positive Wirkung hat.
Die Schilddrüse enthält relativ große Mengen an Selen, das für die Schilddrüsenhormone wichtig ist und auch als Antioxidans dient, das die Schilddrüse vor oxidativem Stress und chronischen Entzündungen schützt.

Chronische Darmerkrankungen

Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind häufige Darmerkrankungen, die durch chronische Entzündungen gekennzeichnet sind. In den letzten Jahrzehnten hat die Häufigkeit dieser Krankheiten aufgrund ungesunder Ernährung und Umweltfaktoren zugenommen. Niedrige Selenspiegel im Blut werden mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung solcher Darmerkrankungen und Darmkrebs in Verbindung gebracht. Andererseits kann eine Selenergänzung zur Vorbeugung und Kontrolle dieser Erkrankungen beitragen. Denn Selen unterstützt die Immunabwehr, hilft bei der Kontrolle von Entzündungen, regeneriert das schützende Darmepithel und unterstützt viele andere Anti-Krebs-Mechanismen. Selen hat sogar einen positiven Einfluss auf bestimmte nützliche Bakterien und die Darmflora.

Beeinträchtigte männliche und weibliche Fruchtbarkeit

Eine Selenergänzung kann die männliche Fruchtbarkeit verbessern, indem sie die Beweglichkeit der Samenzellen erhöht. Aufgrund seiner Rolle als Antioxidans schützt Selen auch die Samenzellen vor den Angriffen freier Radikale, die andernfalls DNA-Schäden und die so genannte DNA-Fragmentierung verursachen können. Eine tägliche Supplementation mit 100-200 Mikrogramm Selen kann die Anzahl und das Volumen der Samenzellen erhöhen.
PCOS (polyzystisches Ovarsyndrom) ist eine häufige Ursache für Unfruchtbarkeit bei Frauen. Es kann zu unregelmäßigen Perioden, Hirsutismus (übermäßiger Haarwuchs um Mund und Kinn), Akne, Müdigkeit und Heißhunger auf Zucker führen. Eine Studie mit 389 Frauen zeigte einen Zusammenhang zwischen PCOS und Selenmangel.
Eine tägliche Supplementierung mit 200 Mikrogramm Selen trägt zur Regulierung des Sexualhormonspiegels bei und beugt PCOS-bedingten Ungleichgewichten vor. Ein stabiler Blutzuckerspiegel ist auch wichtig, um die Fruchtbarkeit und den Hormonhaushalt zu verbessern. Selen spielt auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Fötus. Zu wenig Selen kann zu einem verkümmerten Wachstum des Fötus, einem niedrigen Geburtsgewicht und einem erhöhten Risiko einer Fehlgeburt führen.

Neurologische Erkrankungen

Die höchsten Selenkonzentrationen im Gehirn finden sich in Drüsen und in der grauen Substanz, die aus Nervenzellen und kurzen Dendriten besteht. Selen ist wichtig für die Funktion der Nervenzellen und für den Schutz vor oxidativem Stress. Ein Selenmangel kann zu neurologischen Störungen wie Alzheimer, Parkinson und Epilepsie führen. Selen scheint in der Lage zu sein, epileptische Anfälle bei Kindern zu reduzieren und die Zerstörung von Nervenzellen bei der Alzheimer-Krankheit zu verringern.

Selenbedarf und aktualisierte Empfehlungen

Gemäß den überarbeiteten Nordischen Nährstoffempfehlungen ist die empfohlene tägliche Selenzufuhr für Männer von 60 auf 90 Mikrogramm gestiegen, während die tägliche Zufuhr für Frauen von 50 auf 75 Mikrogramm angehoben wurde. Veröffentlichte Studien deuten darauf hin, dass wir täglich 100-200 Mikrogramm Selen benötigen, um den Blutspiegel des Nährstoffs zu optimieren und einen idealen Wert von etwa 125 Mikrogramm pro Liter zu erreichen. Nach Angaben der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) sind 300 Mikrogramm Selen pro Tag die sichere Obergrenze für die Aufnahme.

Quellen:

Puze Wang et al. Selenium intake and multiple health-related outcomes: an umbrella review of meta-analysis. Frontiers in Nutrition. 13 Sep. 2023

Yin Sun. Review on the health-promoting effect of adequate selenium status. Frontiers in Nutrition. 16 March 2023

Zhang J et al. Association between regional selenium status and reported outcome of COVID-19 cases in China. The American Journal of Clinical Nutrition. Apr. 2020

Pol Solé-Navais et al. Maternal Dietary Selenium Intake during Pregnancy Is Associated with Higher Birth Weight and Lower Risk of Small for Gestational Age Births in the Norwegian Mother, Father and Child Cohort study. Nutrients. December 2020

Malgorzata Dobrzynska el al. Natural Sources of Selenium as Functional Food Products for Chemoprevention. Foods 2023